Interieur
Über die Pathognomik in den Werken von Francesco De Grandi und Andreas Thein


Das Wahre hat kein Fenster, Walter Benjamin


Eine der interessantesten und erhellensten Debatten des 18. Jahrhunderts entwickelte sich zwischen den beiden deutschen Intellektuellen, Johan Caspar Lavater und Georg Christoph Lichtenberg. Gegenstand war die sogenannte Physiognomik; eine Methode, mit der man aus dem Aussehen des Körpers, besonders des Gesichts, das menschliche Verhalten bewusst ordnen und interpretieren zu können glaubte. Lavater behauptete, dass die Leidenschaften und die Gewohnheiten unauslöschbare Zeichnen im Gesicht hinterlassen würden; also eine Art Hermeneutik des Gesichts, um menschliche Neigungen und Charaktereigenschaften aus den Gesichtszügen zu lesen, beziehungsweise die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Menschen aus der Pysiognomie erkennen zu können. Im Gegensatz dazu vertrat Lichtenberg die Meinung, dass man verborgenen Gefühle nur durch die differenzierte Beobachtung der Körperhaltung, -bewegung und Mimik ablesen könne. Nach dieser Theorie hinterlassen die Regungen des menschlichen Inneren Veränderungen im Äußeren des Menschen. So ist für ihn die Pathognomik der einzige Weg, den Menschen zu erkennen.

Edgar Allan Poe, nahm diese Debatte auf und verlagerte den Schwerpunkt dieser Methode - in seinen Erzählungen sowie theoretischen Beiträgen - vom Gesicht auf die vom Menschen bewohnten und gebauten Räume, in dem die menschliche Präsenz nur in dem Verhältnis von Gegenständen und seinen Spuren auf ihnen existiert. Ein Wechsel, der in der unendlichen intern-extern Dialektik und in den Erinnerungen - eher von und in den Objekten, als von und in den Menschen - verstanden werden soll.
Die "physiognomischen Erkenntnisse" zeigen sich in den Gegenständen, indem der Raum und die Objekte in einem Bedeutungszusammenhang stehen; im Detail und im Ganzen. Für Poe kann nur der menschliche Blick auf den beschränkten Raum und auf seinen Details Sinn erschaffen. The room is a picture, ein Raum ist ein Bild, und existiert nur in dem Verhältnis zwischen dem Zuschauer und dem Zugeschauten, zwischen dem bestimmenden Menschen und dem von ihm bestimmten Raum.
Mit Poes Beitrag wird der Raum mood-oriented, das heisst: auf die menschliche Gemütsverfassung orientiert, da er aus der Raum aus einer Subjekt-Objekt Beziehung entsteht, und eine geschlossene expressive Einheit bildet.

Beschränkter Raum, intern-extern Dialektik und Subjekt-Objekt Beziehung – alle grundlegende Elemente der geschlossenen, expressiven Einheit – sind die Schlüssel, um die Werke von Andreas Thein und Francesco De Grandi in Interieur zu verstehen. Die zwei Künstler versuchen, eine enge und individuelle Beziehung zwischen Zuschauer und Werk zu herstellen, indem sie den Ausstellungsraum perspektivisch reduzieren bzw. erweitern. Jedes Werk bildet eine geschlossene expressive Einheit, die – wie bei Poe – nur durch den Blick des Zuschauers zum Leben erweckt werden kann. Der Vorgang zu dieser engen, inneren und individuellen Beziehung zeigt sich in der gemeinsamen Entscheidung beider Künstler, ihre Werke im Sinne von Schau-Kästen zu konzipieren.


Der deutsche Künstler Andreas Thein fotografiert Innenräume gänzlich ohne Menschen. In der Serie Sakraler Raum werden Kirchenräume, Sakralräume oder private Zimmer, Profanräume mit sich darin befindlichen Gegenständen abgebildet, deren Betreten normalerweise nur den Offizinalen erlaubt ist. Aber Thein interpretiert den Begriff von Raum nicht nur als Ort der Sakramente oder Riten wie in Bleichstuhl. Sein Kamera Blick fokussiert sich auch auf die versteckten Räume und Objekte, die die Fähigkeit haben, zu beherbergen, zu enthalten und in diesem Sinn sich dem direkten Blick zu entziehen - wie z.B. ein Schrank, in dem rote Ministrantengewänder hängen (Schrank #3), oder leere Tabernakel (Tabernakel #2), Kelchkoffer und Kisten, die alte Bibel enthalten. In dem Foto aus der Serie Eigenheim nimmt Thein ein einfaches Treppenhaus aus Holz auf. Einfach, weil es sich sichtbar um ein handwerklich gefertigtes Treppenhaus handelt, das im Lauf der Jahre mehrfach repariert wurde. Theins Vorliebe für Innenraumfotografie ist jedoch nur ein Aspekt seiner künstlerischen Bildfindungen: zudem zeigt jedes seiner Fotos eine Rahmenschau, eine innerbildliche Rahmung, die das Motiv innerbildlich begrenzt. So nimmt er Bezug zu ähnlichen Motiven aus der Altniederländische Malerei und aktualisiert mit seien Fotografien den Motivkanon der Romantik - wie zum Beispiel C.D. Friedrichs Frau am Fenster oder in F. Schinkels Blick vom Berge auf eine italienische Stadt.
Das Rahmenthema in Theins Arbeiten in der Ausstellung ist das Schauprinzip, ein Apparat, wie bei Foucault, technisches Gerät und auch kulturelles Symptom in einem.
Vorbild der Rahmenschau ist eindeutig die Metapher des Fensters von Alberti: die Leinwand als perspektivisches Fenster, durch das man die Welt als Ganzes aus einem privilegierten und externen Blickwinkel beobachten kann. Die Beobachtung aus und durch das Fenster verbirgt auch das Ordnungsprinzip des technisierten Auges, es hält fest und ordnet, was sich innerhalb des Fensters abspielt. Abgrenzen und Einrahmen bedeuten fokussieren – scharf sehen – den begrenzten Raum, die aufgenommenen Elemente und die strukturale Bildkomposition. Dieser Ordnungsprinzip wird von einer anderen Grundidee gestärkt: die Fotografien werden im Maßstab 1:1 präsentiert, damit die Bilder die gleiche Größe der realen Objekte haben. Zweidimensionalität und Dreidimensionalität fallen zusammen. Diese Besonderheit führt zur Thematisierung des Formats im kunsthistorischen Diskurs. Die Entscheidung und die Möglichkeit, Fotografie in großen Formaten zu präsentieren, annulliert die durch die Grössenverhältnisse bisher üblichen Unterschiede zwischen Fotografie und Malerei oder Bildhauerei. Mit der Verminderung des Formatunterschieds, kann die Fotografie aufgrund der technologischen Entwicklungen die Ebene der monumentalen und architektonischen Kunstwerke erreichen. Die Künstler der Düsseldorfer fotografischen Schule, alle Schüler der Klasse Becher, wie Gursky, Höfer, Ruff, unter anderen, haben diesen Schritt gewagt und erfolgreich umgesetzt. Das Format ist für Thein jedoch auch ein formal-inhaltliches Muss, das den Eindruck von Deplacement und Verfremdung der aufgenommen Objekte bewirkt und gleichzeitig die konstitutive Komponente seiner Fotografie wird. Das Zusammenspiel von Innenräumen, Rahmenschau und Maßstab 1:1 führt zur Genese der intimen Spiegelbeziehung zwischen Werk und Zuschauer.
Ein Paradoxon liegt in Theins Fotografie: trotz der Tendenz zur Objektivierung, liegt die Spannung für den Betrachter zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit. Er sucht die Spuren menschlichen Handelns auf den festgehaltenen Gegenständen und Räumlichkeiten; wie ein Physiognomiker des Interieurs, projiziert der Zuschauer seine Erinnerungen und Gemütszustand in die Bilder.
Wie beim Anblick der Medusa – vom Dreiklang Format /innere Rahmen / beschränkte Räume aktiviert – erstarrt der Betrachter zu Stein und wird mit einer nicht fassbaren Bedeutung konfrontiert. Er sucht sich selbst, als sei er vor einem Spiegel. Aber im Unterschied zu einem tatsächlichen Spiegelbild, gibt es für nur das zu sehen, was er selbst in das Bild imaginiert, etwas, was real nie widergespiegelt werden kann.

Für die Ausstellung Interieur präsentiert Francesco De Grandi drei Werke: Mondo Nuovo #1, Mondo Nuovo #2 und MondoNuovo #3, die sich auf seine Serien WOOD beziehen. WOOD ist eine der zahlreichen Variationen zum Thema der Landschaftsmalerei, die der Palermitaner De Grandi mit fluoreszierenden Farben realisiert und mit Wood-Lampen beleuchtet. Zu diesem Themenbereich malte De Grandi Trompe-l’œils im Außen-und im Innenraum. Wichtig in diesem Zusammenhang sind ihm der enge Dialog mit dem Umräumen, der nur dank der Beleuchtung und der Reflexion der Farbe funktioniert.
Mit der neuen Serie setzt sich der Maler mit einer besonderen visuellen Apparatur, dem optischen Gerät von „Mondo Nuovo“ (Guckkasten, wörtlich: Neue Welt, eng.: peep-box, fran. : boîteoptique) auseinander. Es handelt sich dabei um ein ab dem 17. Jahrhundert sehr beliebten Gerät der Volksbelustigung. Innerhalb einer Holzkiste ermöglichte eine lupenartige Linse die Präsentation von Landschaften, Städten oder exotische Szenarien, die durch Leuchtprojektionen lebensnah dargestellt wurden. So entstand der Name Mondo Nuovo dafür in Italien.
Die drei von De Grandi gebauten Guckkästen stellen in seinem Werk eine weitere Konzentrierung von Malerei in Bezug zur Wahrnehmung dar. Sie sind geschlossene, expressive Einheiten zugänglich nur durch einseitige Linse. Aber es sind auch verkleinerte und reduzierte Welten, Synthesen von Innenlandschaften. Mondlandschaften in Mondo Nuovo #2, Höhlen in Mondo Nuovo #1, und verkehrte Welt in Mondo Nuovo #3. Sie machen die Landschaft nicht sichtbar, bilden sie nicht einfach ab, sondern sie machen - mittels der Kästen - die Vorstellung von Landschaft sichtbar, indem sie die phantasievolle Plattform dafür bilden.
Die Serie Mondo Nuovo transzendiert die Malerei und bezieht sich dabei auf die Entwicklung der optischen Kästen über die Geburt des Kinos bis hin zum deutschen Expressionismus. Der Expressionismus war ja ein "malerisches Kino". Es handelte sich auch bei ihm nicht um eine mimetische Wiedergabe. Ziel war vielmehr, die Realität zu verzerren und zu transzendieren. Die Leinwände als malerische Bühnen manifestierten sich voll von emotionalen Patterns, das bedeute, sie waren mood-oriented, und die kontrastreiche Beleuchtung hatte die Rolle, diese Elemente besonders sichtbar zu machen und zu beleben. Die Bilder des Expressionismus verzerrten bewusst die sehbildliche Wiedergabe, um den Raum emotional aufzuladen.
De Grandis Mondo Nuovo verzerren ebenso und transzendieren die Landschaft, da der Künstler das Innere der Kästen malerisch behandelt und den Hintergrund zur Bühne werden lässt. Wie beim Expressionismus wird die Landschaft, allerdings hierdurch der Projektion der Lampe, extrem belebt. Die Beleuchtung bricht das ursprüngliche Schwarz-Weiße der Farbe und breitet sich aus, indem sie die Grenze des ihr zugewiesenen Raumes überschreiten. So wird der Zuschauer unvermeidbar zu dem Mise-en-scene angezogen. Die Linse, der einzige Kontakt zwischen der Welt der Kästen und der Welt des Betrachters, hat nicht nur die Rolle zu vergrößern und dien Blick auf das Geschehen zu öffnen, sondern die Linse funktioniert als anamorphotischer Spiegel. Sie verzerrt die Bilder, indem sie die in das Herz der intern-extern Dialektik dringt. Der Zuschauer nimmt an einem Schauspiel teil, das es wegen seines Deplacements eigentlich gar nicht gibt, aber gleichzeitig wirkt der Anblick real, weil alles von den Augen genau wahrnehmbar ist. Die Landschaft wird zum unentzifferbaren Rätsel, das eine imaginär Botschaft enthält, deren Inhalt zu erkennen man nur anstreben kann; damit wird die Landschaft zum immer neu zu beschreibenden „Palimpsest des Unsichtbares“.

Dr. Alessandro Pinto, Palermo 2014
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