RÄUME UND RITUALE

Die Verbindung von Kunst und Kult beziehungsweise von Kunst und Religion ist so alt wie diese selbst. Davon kann man sich bereits an einer der ältesten Stätten der abendländischen Kulturgeschichte überzeugen, in der Altamira-Höhle im Norden Spaniens. Die sogenannte Sixtinsche Kapelle der prähistorischen Kunst ist nicht nur ein Beispiel für die künstlerischen Leistungen unsere Vorfahren vor rund 15.000 Jahren. Die Höhle und mit ihr auch ihre Ausmalung war eingebettet in ein nicht mehr bekanntes religiöses Gefüge aus Ritual und Macht. So wurde die räumliche Staffelung der Höhle im Sinne einer wie auch immer zu verstehenden Hierarchisierung genutzt. Die Malereien finden sich nämlich nicht im vorderen, vom Tageslicht erhellten Teil der Höhle, den man sich sozusagen noch Teil als Teil eines profanen Alltags vorstellen mag, sondern in einem tiefer gelegenen dunklen Bereich. Die Beschaffenheit des natürlichen Höhlensystems, wurde im Sinne der funktionalen oder auch rituellen Bedürfnisse jener frühen Kultur interpretiert.
Derartige Staffelungen von Räumlichkeiten sind wesentlich für den Aufbau von Sakralbauten. In seinem posthum erschienen Buch „Die Religion in der Gesellschaft“ (2002), beschreibt Niclas Luhmann das Religiöse als Teil des Gesellschaftlichen. Um diesen Teil sichtbar zu machen, wendet er als Kontrastmittel das Gegensatzpaar heilig/ profan an. „Luhmann“, so der Literaturkritiker und Professor für Neuere Deutsche Literatur in Rostock Lutz Hagestaedt, „will zeigen, wie die Gesellschaft den Bereich der Religion definiert, nämlich dadurch, dass sie den Bereich der Religion als sacrum abgrenzt gegen alles, was nicht so bezeichnet werden kann: das Profane“.
In der Außen- und Innenarchitektur von Sakralbauten wird das sacrum durch eine Vielzahl von Abgrenzungen, von hierarchisch sich aufgebauten Bezirken und Räumen aus dem Bereich des Profanen entfernt. Durch die Abgrenzungen, die ihrerseits im jeweiligen Glaubenssystem durch Rituale und Auslegungen legitimiert werden, entsteht eine Polarität: Hier der gemeine Raum, das Profane, dort, ein exklusiver Bezirk, der durch allerlei Tabus spiritualisiert wird oder als Ort des Anderen dienen kann. Ein typisches Beispiel innerhalb eines christlichen Gotteshauses ist der Tabernakel. Für gewöhnlich handelt es sich dabei um einen kunstvoll gearbeiteten Schrein, der gleichsam das Herz des Hochaltars darstellt und einen Kelch bewahrt, mit dem das Wunder der Wandlung in der Eucharistie vollzogen wird.

In der Werkserie Sakraler Raum von Andreas Thein, die mit dem Jahr 2009 beginnt, finden sich insgesamt sieben Tabernakelaufnahmen. Mit der Fachkamera hat der in Düsseldorf lebende Fotokünstler jedoch nicht den sich im Tabernakel befindlichen Kelch aufgenommen, sondern den ihn umgebenden Umraum, der durch jenen tresorähnlichen Kasten geschaffen wird. Mittig und im rechten Winkel blickt der Betrachter beim Tabernakel I (2009) in einen mit hellem Textil ausgeschlagenen Kasten. Weder die bespannten Wände, noch der leicht vergilbte Vorhang, der zur Seite geschoben wurde, noch die dunkelrot lackierte Rahmenfläche, markieren den geheiligten Raum durch offensichtliche Attribute des Reichen, Reinen oder Prächtigen, die sich im Dekor des Religiösen so häufig finden lassen. Die Stoffe sind mit den Jahren schmutzig geworden, in den Kanten und Vertiefungen lagert die Zeit als unbestimmbare Dunkelreste und der Rahmenlack ist aufgesprungen und schlicht wie der eines alten Werkzeugs.
Zweifellos möchte sich die Aufnahme nicht beim möglichen Prunk oder beim Skurrilen oder Fremdartigen, das bei diesem Thema ebenfalls denkbar ist, aufhalten. Die Aufnahme zeigt einen, wenn man so will, „gewöhnlichen“ sakralen Raum, einen Raum, dessen Funktion es ist, das Heilige zu markieren und zu definieren.
Mit der Frage, was das Heilige ausmacht und wie es wahrnehmbar ist, hat sich der Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto 1917 in seinem bemerkenswerten Werk „Das Heilige“ beschäftigt. Darin unternimmt er den Versuch, sich einem Gegenstand zu nähern, der sich notwendigerweise der Wissenschaft oder überhaupt der Erkenntnis entziehen muss. Otto spricht vom Heiligen, als dem Numinosen, „dem ganz Anderen“. Das Heilige ist nicht als solches, sondern nur anhand seiner Auswirkungen (auf den gläubigen Menschen) untersuchbar. Dieser, so Otto, erlebe das religiöse Mysterium als Schrecken oder Schauder, als tremendum sowie als einen Moment der Verzauberung oder fesselndes Geheimnis, das er fascinans nennt.

Was geschieht in einem sakralen Raum? Breitet sich die Heiligkeit einer Hostie oder einer Reliquie wie ein unbekanntes Fluidum in seiner Umgebung aus? Ist das Sakrale eine hierarchische Folge von Exklusionen, von sozialen wie räumlichen Abkapselungen beziehungsweise Ausgrenzungen, an deren Ende immer weniger Welt und mithin immer mehr Nicht-Welt bewahrt oder gar eingefangen wird? Ist das Sakrale das Ergebnis sich überlagernder Rituale, eine Balance von Paradoxien. So wie im Bild, das das Innenleben eines roten Messkoffers zeigt (Messkoffer (2010)). Beschwören dort nicht die Lücken und Leerstellen vielmehr jenes Andere, als es ein gefüllter Koffer jemals könnte. Ebenso beim Kelchkoffer (2011). Der mit einem samtblauen Futter ausgeschlagene Umraum hinterlässt den Eindruck, der, oder ein Kelch sei gegenwärtig. Die Negativform beschwört geradezu jene andere Existenz, die man sich in einer wie auch immer zu verstehenden Weise sublim vorstellen muss. Das „ganz Andere“, wie es bei Rudolf Otto heißt, ist hier geradezu spürbar. Abwesenheit und Anwesenheit, Darstellen und Selbstsein - mit diesen Gegensätzen umkreisen die meisterlichen Fotografien von Andreas Thein einen springenden Punkt – im Zentrum steht nicht nur die Frage nach dem Sakralen, sondern auch die, was Fotografie ist.

Seit seiner ersten Werkgruppe mit der der ehemalige Folkwang-Schüler 2001 als Künstler erstmals öffentlich in Erscheinung trat, der Serie Eigenheim, spielt das Fotografische, im Sinne eines künstlerischen Konzepts, eine entscheidende Rolle. Eigenheim entstand im wesentlichen zwischen 2001 und 2003 und umfasst insgesamt 45 Arbeiten. Die Serie zeigt Schränke, Schubladen und Räume, die, obwohl sie bereits im neuen Jahrtausend aufgenommen wurden, noch aus einer Zeit zu stammen scheinen, als es ein Ost- und ein Westdeutschland gab, und man dachte, dass die Zukunft immer größeren Wohlstand mit sich bringen würde. Die biedere Prosperität eines Glasschrankinterieurs mit seinen staubfreien und unbenutzten Kristallgläsern (Glasschrank (2001)) oder eines Jagdgeschirr-Services (Jagdgeschirr (2001)), das Innenleben einer Schublade, deren sorgsam angeordneten Kladden und Fotoalben schon seit Jahren oder vielleicht sogar Jahrzehnten ein unentdecktes Farbfeld-Relief bilden (Schublade I (2001)) oder jene fast meditative Ordnung von weißen Handtüchern (Weiße Wäsche (2001)). All diese Motive haben etwas gemeinsam. Sie zeigen intime Ordnungen und in Räumen erstarrte Interpretationen der Wahrnehmung und lassen zugleich in der Schwebe, ob sie nicht doch Inszenierungen sind, vom Künstler selbst täuschend echt simulierte Wirklichkeiten.
Die fotografische Technik unterstützt diesen Eindruck, indem sie versucht, die Autorschaft und Individualität des Fotografierenden zu negieren. Den Bildausschnitt, so suggerieren die Fotos, hat nicht der Künstler ausgewählt, sie begründen sich aus sich selbst heraus, durch das Vorhandensein von rahmenartigen Öffnungen. Die Türrahmen, Schranköffnungen und Schubladen legitimieren das Gesehene erst dazu, ein Bild zu werden. Der Blickwinkel ist immer derselbe. Das Licht und die Farbigkeit, die Schärfe und die Zeichnung der Aufnahmen: Alles strebt nach Sachlichkeit und Neutralität, bis hin zur Präsentation. Jede Fotografie, die der Künstler seit 2001 präsentiert hat, folgt diesem Schema, jede wird in der gleichen Weise vom Duktus des Individuellen bereinigt und als Vera Ikon, als ein Bild der Wirklichkeit gezeigt, dass seine Wahrheit aus sich selbst bezieht, aus seiner konzeptuellen Konsequenz. Jede fotografische Arbeit von Andreas Thein gibt die abgebildete Wirklichkeit im selben Größenverhältnis wieder, das heißt die Fotos sind stets so groß, wie das, was darauf zu sehen ist.
Auch in der darauf folgenden Serie Fremdenzimmer (ab 2002) bleibt die Technik innerhalb dieses konzeptionellen Rahmens. Allerdings wandert der Blick vom Privaten hin zum Öffentlichen, zu bestimmten, gesellschaftlich funktionalen Räumen. Da ist der durch ein Sichtfenster gerahmte pseudomaritime Lebensraum, in dem Pinguine oder Seehunde in einem Zoo ihr Dasein fristen, der Blick in einen Gegenüberstellungsraum auf einer Polizeiwache, oder das seltsam abstrakt wirkende Blumenbeet, das in der vom Künstler selbst gehängten Ausstellung Von Raum zu Raum in der ehemaligen Reichsabtei Kornelimünster, als Scharnier zwischen den Serien Eigenheim und Fremdenzimmer fungiert. Neben dem konkreten Raum zeigen die Fotografien von Andreas Thein auch die Unhintergehbarkeit des Raumes. Wie der Titel der Werkschau, die den Charakter einer Retrospektive hat, ist es gar nicht anders möglich, als sich von Raum zu Raum zu bewegen.
Die konzeptuelle Konsequenz von Andreas Thein ist erstaunlich. Sie verbindet ihn mit anderen „Raumkünstlern“ wie etwa Candida Höfer, Thomas Demand und Gregor Schneider. Das langsame Fortschreiten, das Verweigern gegenüber den Modeströmungen des Kunstmarktes, gegenüber den raschen Wechsel von Thema und Technik, geben den Arbeiten des 43-Jährigen etwas Zeitentrücktes. In unserer säkularisierten Gesellschaft wirken sie fast wie Refugien des Sakrales.

Lothar Schmidt

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