Die Erinnerung im Blick


Zeit, Ordnung und Raum: Anhand der grundlegenden Koordinaten der Fotografie öffnet die Serie Eigenheim von Andreas Thein den Blick in Schachteln, Kammern und Räume privater Lebenswelten.
Der eng begrenzte Bühnenraum des Vorgefundenen wird im Illusionsraum der Fotografie zu Archiven und Modellen der Erinnerungen, des Übersehenen: Kleine Welten, die von der Notwendigkeit und unseren Wünschen sprechen, das Dasein zu strukturieren, indem wir die Dinge mit denen wir leben, ordnen, ablegen, inszenieren.

Wie der Begriff Eigenheim entstammen die Motive des 34-jährigen Fotokünstlers einer Zeit, die obwohl noch vorhanden, ihre ehemalige Selbstverständlichkeit langsam ins Kuriose und Sammlungswürdige übertragen hat. Die biedere Prosperität eines Glasschrankinterieurs mit seinen staubfreien und unbenutzten Kristallgläsern (Glasschrank, 2001) oder eines Jagdgeschirr-Services (Jagdgeschirr, 2001), das Innenleben einer Schublade, deren sorgsam angeordneten Kladden und Fotoalben schon seit Jahren oder vielleicht sogar Jahrzehnten ein unentdecktes Farbfeld-Relief bilden (Schublade I, 2001) oder jene alltägliche und rätselhafte Ordnung von Briefumschlägen, Taschenrechner und Gebetsbüchern eines geöffneten Sekretärs (Sekretär, 2001): Auswahl und Arrangement der Dinge präsentieren eine eben noch vorhandene Welt der Alltags-Ästhetik, die Mitte der 60er bis Anfang der 80er Jahre anzusiedeln ist. Dennoch lassen die Fotografien nostalgischen Empfindungen nur wenig Raum. Die geheimen Kammern, die in den Jahren 2000 bis 2002 aufgenommen wurden, bewahren gegenüber dem Betrachter eine
zeitliche Distanz. Zum einen ist es die Distanz, die sich durch den Wechsel der Moden in Design und Lebensstilen eingestellt hat. Zum anderen haftet den Arrangements ein Bild- und Formverständnis an, das der Elterngeneration des Künstlers angehört. Wie die Eigentümer jener Guckkastenbühnen im Ritual persönlicher Ordnung Erinnerungen darin abgelegt und geformt haben, so bewahren und erzeugen die Fotografien noch etwas anderes: Sie sind Erinnerungen des Blicks.

Wer ist der Autor dieser Ordnungen? Die Allgemeingültigkeit mancher Arbeiten wie etwa Weisse Wäsche (2001) oder Glasschrank (2001) behauptet einen Bereich zwischen Dokumentation und Inszenierung. Sie lässt den Betrachter zweifeln, ob er sich einem Abbild oder einer Vorstellung von Welt gegenüber sieht. Andererseits gibt es Aufnahmen, die eine derart disparate Kombination persönlicher Utensilien präsentieren, dass eine Inszenierung nur schwer vorstellbar ist. Dort ordnen sich die ästhetischen und funktionalen Grundmuster einem geheimnisvollen und unkalkulierbaren Gestaltungsmoment unter: Dem unbewussten Wirken der Zeit. Es sind Anordnungen, die sich ´mit der Zeit so ergeben haben´, Dinge, die sich ´im Laufe der Zeit angesammelt haben´: Die Zeit macht das Disparate plausibel.

Die Abbildungsqualität der Großbildfotografie, der orthogonale Kamerablick und die rahmenlosen Präsentation der Arbeiten unterstützen den Prozess, im Privaten das Allgemeine zu erkennen. Bemerkenswert und diskussionswürdig ist die Methode, mit der Andreas Thein das Problem löst, den notwenig räumlichen Ausschnitt der Fotografien zu begründen. Alle Arbeiten nutzen vorhandene Öffnungen, die das Foto begrenzen und den Blick auf eine Art Miniaturbühne freigeben. Die ´Handschrift´ des Künstlers verschwindet zu Gunsten einer neutralen Professionalität. Aufgehoben bleibt sie in den Erinnerungen, die sich in die Sicht der Dinge eingeschrieben haben.

Lothar Schmidt, Madrid
Kunstkritiker / Journalist
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